Predigt am Pfingstsonntag, 19. Mai 2024,
über Ezechiel 37,1-14 in der Evangelischen Stadtkirche Durlach

von Pfarrer Thomas Abraham

Erlittenes Leid kann Menschen die Sprache verschlagen. Gewalt-Erfahrungen können so sehr belasten, dass Menschen nicht in der Lage sind, darüber zu sprechen.
Eingesperrt in das Innerste bleiben diese Erfahrungen aber weiter eine Last. Das Unsägliche und Unaussprechliche kann nicht bearbeitet oder überwunden werden. So behalten die Verletzung und der Schmerz das letzte Wort.

Therapeuten versuchen manchmal, über das Malen einen Zugang zu diesen eingesperrten Erfahrungen zu eröffnen. Was sich nicht in Worte fassen lässt, kann einen Ausdruck in Bildern finden. Diese Bilder sind oft voller Symbole und Zeichen. Sie wirken surreal und manchmal auch verstörend.

So ein Bild von unaussprechlichem Leid hat der Prophet Ezechiel mit Worten nachgezeichnet. Die Zerstörung Jerusalems im Jahr 587 vor Christi Geburt war ein Trauma für das Volk Israel: Teile der Bevölkerung waren in die Fremde verschleppt. Die Heimat lag in Trümmern und mit ihr lag die Zukunft in Trümmern. Kein Ausweg in Sicht.
Der Prophet zeichnet ein Bild davon, wie verzweifelt und niedergeschlagen das Volk Israel damals war. In diesem verstörenden Bild keimt aber auch eine unglaubliche Hoffnung auf: Gottes Geistkraft wird lebendig machen.

Wir hören aus dem Buch des Propheten Ezechiel im 37. Kapitel die Verse 1-14:

Ezechiel
Die Hand des HERRN ergriff mich
und ich hatte eine Vision:
Der HERR führte mich
durch seinen Geist hinaus
und brachte mich mitten in eine Ebene.
Dort lagen überall Knochen.
Gott führte mich an den Knochen vorbei
und in der Ebene umher.
Die ganze Ebene lag voller Knochen,
die völlig ausgetrocknet waren.
Gott sagte zu mir:

Gott
»Du Mensch, können diese Knochen
wieder lebendig werden?«

Ezechiel
Ich antwortete ihm:
»HERR, mein Gott, du weißt es!«
Da sagte er zu mir:

Gott
Rede als Prophet zu diesen Knochen
und sag zu ihnen:
Ihr vertrockneten Knochen,
hört das Wort des HERRN!
So spricht Gott, der HERR zu diesen Knochen:
Ich selbst gebe meinen Geist in euch
und ihr werdet wieder lebendig!
Ich verbinde euch mit Sehnen
und lasse Fleisch darüber wachsen.
Ich überziehe euch mit Haut
und gebe euch Lebensgeist.
So werdet ihr wieder lebendig.
Dann werdet ihr erkennen,
dass ich der HERR bin.

Ezechiel
Ich redete als Prophet,
wie er mir befohlen hatte.
Noch während ich redete,
wurde es laut und die Erde bebte.
Die Knochen rückten zueinander,
jeder Knochen an seinen Platz.
Ich sah, wie sie mit Sehnen verbunden wurden
und wie Fleisch darüber wuchs.
Dann wurden sie mit Haut überzogen,
aber Lebensgeist war noch nicht in ihnen.
Da sagte Gott zu mir:

Gott
»Rede als Prophet zu diesem Lebensgeist!
Ja, du Mensch,
rede als Prophet zum Geist und sag:
So spricht Gott, der HERR!
Geist, komm herbei
aus den vier Himmelsrichtungen!
Hauch diese Toten an,
damit sie wieder lebendig werden.«

Ezechiel
Ich redete als Prophet,
wie er mir befohlen hatte.
Da kam Lebensgeist in sie
und sie wurden wieder lebendig.
Sie standen auf –
es war eine sehr große Menschenmenge.
Gott sagte zu mir:

Gott
Du Mensch,
diese Knochen stehen für die Israeliten.
Sie sagen: »Unsere Knochen sind vertrocknet.
Unsere Hoffnung ist dahin,
wir haben keine Zukunft mehr!«
Darum rede als Prophet und sag zu ihnen:
»So spricht Gott, der HERR!
Ich öffne eure Gräber
und lasse euch herauskommen,
denn ihr seid mein Volk.
Dann bringe ich euch in das Land Israels.
So werdet ihr erkennen, dass ich der HERR bin:
Ich öffne eure Gräber
und lasse euch herauskommen,
denn ihr seid mein Volk.
Ich gebe meinen Geist in euch
und ihr werdet wieder lebendig.
Dann bringe ich euch in euer Land.
So werdet ihr erkennen, dass ich der HERR bin:
Ich habe es angekündigt und werde es tun!«
So lautet der Ausspruch von Gott, dem HERRN.

 

Unsere Knochen sind vertrocknet. Kein Fleisch mehr daran, nicht einmal mehr Haut und Knochen. Dem Tod geweiht. Unsere Hoffnung ist dahin, wir haben keine Zukunft mehr!

So erging es den Israeliten vor 2600 Jahren. So erging es den Israelis nach Bekanntwerden der Gräueltaten vom 7. Oktober: Der Staat Israel als Schutz für jüdisches Leben ins Mark getroffen. 240 Menschen als Geiseln verschleppt; 1200 getötet, etliche davon in ihren Autos verbrannt. Der Schmerz dauert an bis heute. Unsere Knochen sind vertrocknet. Unsere Hoffnung ist dahin, wir haben keine Zukunft mehr!

So ergeht es Ukrainerinnen und Ukrainern seit 116 Wochen: Städte dem Erdboden gleichgemacht, Leichen auf den Straßen. Überlebende in Angst und Schrecken. Unsere Knochen sind vertrocknet. Unsere Hoffnung ist dahin, wir haben keine Zukunft mehr!

So ergeht es Bewohnern und Bewohnerinnen des Gaza-Streifens: Im Stich gelassen von denen, die angeblich für Palästina kämpfen; vom Hunger entkräftet; zermürbt durch die ständige Angst vor Raketen und dem Vorrücken der israelischen Militärs. Unsere Knochen sind vertrocknet. Unsere Hoffnung ist dahin, wir haben keine Zukunft mehr!

So geht es Menschen auf Intensivstationen: Die Chemotherapie kann die Chance auf ein Weiterleben bieten oder aber das Leben in der verbleibenden Zeit zur Qual werden lassen. Unsere Knochen sind vertrocknet. Unsere Hoffnung ist dahin, wir haben keine Zukunft mehr!

Das verstörende Bild von dem Feld voller Totengebeine erinnert an all das, was Menschen vom Leben abschneidet: Krankheit und Schmerzen, Krieg und Gewalt, Armut und Hunger – und auch die verzweifelte Frage, ob und wie und wann sich daran etwas ändern lässt. In unterschiedlichen Situationen stellt sich immer wieder die Frage: Du Mensch, können diese Knochen wieder lebendig werden?

Die Antwort aus dem Mund des Propheten Ezechiel finde ich einerseits realistisch und andererseits ermutigend: Herr, mein Gott, du weißt es. Kein möchte-gern-frommes „Dir, Gott, ist alles möglich“ oder „der Glaube kann Berge versetzen“. Kein aus Lebensratgebern nachgeplappertes „Ich glaube an die Kraft positiver Gedanken“. Der Prophet kann ebenso wenig in die Zukunft sehen wie seine Landsleute. Seine Hoffnung ist ebenso dahin wie die seiner Landsleute.
Aber eines unterscheidet ihn: Er lässt seine Hoffnungslosigkeit in Frage stellen. Er lässt dem Zweifel daran Raum, dass es keine Zukunft mehr gäbe. Können diese Knochen wieder lebendig werden? Kann es eine Heilung geben? Eine Lebensqualität, die den Schatten des Todes standhält? Einen Frieden zwischen denen, die sich in erbittertem Hass gegenüberstehen? Eine Versöhnung derer, die in ihren verfeindeten Positionen festgefahren sind? Kann in diese vertrockneten Knochen wieder Leben einkehren?
Ich weiß es nicht. Aber du, Gott, du weißt es. Gott kann Dinge ermöglichen, die wir beim besten Willen nicht ermöglichen können. Gott kann Leben einhauchen, wo wir es nicht mehr für möglich halten. So spricht Gott, der HERR!
Ich öffne eure Gräber und lasse euch herauskommen. Ich gebe meinen Geist in euch
und ihr werdet wieder lebendig.

Paulus schreibt an die Gemeinde in Rom: Gott, der Christus von den Toten auferweckt hat, wird auch eurem sterblichen Leib das Leben schenken. Das geschieht durch seinen Geist, der in euch wohnt (Römer 8,11).
Und im Koran steht: Gott allein ist die Letzte Wahrheit. Er allein bringt die Toten zum Leben, weil er die Macht hat, alles zu wollen (Sura 22:7)

Wir teilen mit Juden und Muslimen die Hoffnung auf Gottes belebende Kraft. Lasst uns Gott darum bitten, dass er uns seinen Geist einhaucht und uns mitnimmt auf seinen Weg der Liebe und des Friedens. Möge seine Liebe uns beleben, damit wir als Boten der Hoffnung unserer Wege gehen.

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