Predigt „Ohne die Liebe …“ am Sonntag, 16. Juni 2024, um 10 Uhr
in der Evangelischen Stadtkirche Durlach
im Rahmen der Ausstellung „gesichtslos – Frauen in Prostitution“
von Pfarrer Thomas Abraham und Pfarrerin Dr. Judith Winkelmann
T. Abraham: Leben hinter der Maske
Jessi macht sich fertig für ihren Arbeitstag. Schritt für Schritt schlüpft sie in ihre Rolle, legt Make-up auf, streift die Jogginghose ab, zieht hohe Pumps an und steigt auf einen Barhocker. Am kommenden Morgen wird sie das Make-up wieder abwaschen. Ebenso das Gefühl der zwölf Freier auf ihrem Körper. Sie wird den Tag verschlafen, bis sie wieder aufstehen wird und erneut in ihre Rolle schlüpft.*
Frauen in der Prostitution tragen bei ihrer Arbeit einen anderen Namen. Zusammen mit Kleidung und Make-Up soll dieser Name zeigen: “Das bin nicht ich. Das ist eine andere”. Anonymität, Verdrängen und Vergessen sollen helfen, das Unerträgliche auszuhalten.
Ich mache den Job nur für Geld. Ich habe keine Gefühle. Ich schalte meinen Kopf aus.
Vielen Frauen, die in die Prostitution geraten, wurde schon vorher sexuelle Gewalt angetan. Sie haben schon dabei “gelernt”, die traumatischen Erlebnisse aus ihrem Bewusstsein abzuspalten. Ihre Betätigung in der Prostitution ist so eng wie kaum ein anderer Beruf mit ihrem eigenen Körper verbunden. Aber es ist eine Tätigkeit, die nichts mit ihnen als Person zu tun hat. Sie bleibt ein fremder Teil von ihnen. Sie geht oft einher mit körperlicher Gewalt und drängt in die seelische Isolation.
Gott sagt: “Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!” (Jesaja 43,1) Die liebende Zuwendung nennt beim Namen. Wer beim Namen gerufen wird, der erfährt: “Ich bin gemeint”.
J. Winkelmann: Es war nicht meine Entscheidung
Es war gar nicht meine Entscheidung. Ich hatte einen Freund und er hat gesagt, dass er mich liebt, heiraten will und mit mir zusammenleben möchte. Er hat mir erzählt, wir gehen gemeinsam nach Deutschland, wir arbeiten, wir kaufen uns ein Haus oder eine Wohnung und dann können wir ruhig leben.
Diese Worte einer Prostituierten haben mich berührt. Ihr Wunsch nach einem gemeinsamen Leben, der Hoffnung auf eine bessere Zukunft, dem Vertrauen in die Worte des Geliebten. Was soll daran falsch sein?
Für viele Frauen in der Prostitution hat sich diese Liebe in einen Albtraum verwandelt. Sie haben nicht damit gerechnet, dass sie in Deutschland in der Prostitution landen. Die Realität sah dann so aus:
Der Freier bestimmt, was passiert.
Von einer Liebe, die uneigennützig dem anderen begegnet, bleibt nichts übrig. De facto haben die Frauen keine Rechte, obwohl sie mit dem Prostitutionsgesetz von 2002 und dem Prostituiertenschutzgesetz von 2017 eigentlich mehr Selbstbestimmung erhalten sollten. Sie sollten nun straffrei ihrer Arbeit als Sexarbeiterinnen nachgehen können. Sie sollten sich kranken- und sozialversichern und, wie andere auch, Steuern zahlen.
Das war gut gedacht, allein, es kam anders. Es wurde unterschätzt, wie massiv das organisierte Verbrechen diese rechtliche Regelung für sich zu nutzen wusste. Nun wurden im großen Stil junge Frauen aus Südosteuropa und Afrika nach Deutschland gebracht. Die Armut in den Herkunftsländern, die patriarchale Haltung, Frauenkörper zu verdinglichen, kaufbar zu machen und der Traum vieler Frauen von einem besseren Leben führte dazu, dass Deutschland zu dem Bordell Europas wurde. Die meisten Frauen in der Prostitution sind nach wie vor nicht angemeldet, eine Kranken- und Sozialversicherung haben sie auch nicht. Sie wissen nicht um ihre Rechte, sie können nicht deutsch. Und stigmatisiert sind sie weiterhin.
Die Frauen in der Prostitution können ihre vermeintliche Freiheit nicht wahrnehmen. Insofern müssen wir uns kritisch fragen, wie wir Freiheit verstehen.
Paulus schreibt an die Gemeinde in Korinth: Alles ist erlaubt. Aber nicht alles dient zum Guten. Niemand suche das Seine, sondern was dem anderen dient. (1 Korinther 10,23f) Für Paulus ist Freiheit kein Freifahrtschein. Freiheit hat ihre Grenze dort, wo sie auf die Freiheit des Gegenübers verletzt. Und so sehe ich es als unsere christliche Aufgabe an, danach zu fragen, was diesen Frauen dient, damit sie ihre Freiheit, ihre Selbstbestimmung über ihren Körper und über ihr Leben wieder erlangen.
T. Abraham: Die Sicht der Freier
Im November 2022 wurde eine Studie veröffentlicht mit dem Titel „Männer in Deutschland, die für Sex zahlen – und was sie uns über das Versagen der legalen Prostitution beibringen“. Anonym wurden Freier in 6 Ländern dazu befragt, warum sie zu Prostituierten gehen und wie sie Frauen in der Prostitution wahrnehmen. Die Antworten zeigen: Diese Männer wissen, dass Prostituierte unter Zwang handeln; aber das nehmen sie in Kauf, wenn sie dafür ihre Befriedigung bekommen. Sie suchen nur das ihre und nehmen die Frauen nicht als Menschen wahr. Sie beschreiben das so:
„Sie wird als Ware angesehen, nicht als Lebewesen.“
„Wenn ich mir was kauf, dann hab ich Verlangen nach dem Gegenstand. Man hat doch kein Gefühl, wenn man sie zahlt. Für mich war das ein Gegenstand.“
„Das ist so wie wenn ich zum Italiener gehe: da kann ich mir die Pizza auch individuell zusammenstellen.“**
„Wenn ich keine Liebe habe, bin ich nichts“. Sexualität ist ein Teil des Miteinanders von Menschen auf Augenhöhe. Sie ist ein Geschenk Gottes an die Menschen. Diese Kostbarkeit der Sexualität bleibt nur bewahrt, wenn Menschen sie sich gegenseitig schenken. Sexkauf entmenschlicht – sowohl die Frauen als auch die Männer. Darauf kann kein Segen liegen. „Alles, was ihr tut, soll in Liebe geschehen“.
J. Winkelmann: Solidarität mit den Schwachen als Ausdruck der Liebe
Freundschaft? Freundschaft gibt es unter uns nicht, alle sehen in dir eine Konkurrentin. Kolleginnen kann ich sagen. Eine richtige Freundschaft habe ich hier nie erlebt.
Frauen in der Prostitution fühlen sich oft allein und hilflos. Solidarität ist im Rotlichtmilieu ein Fremdwort. Zugleich sind sie zutiefst in ihrer Seele verletzt. Denn Freiheit ist auch immer eine verletzliche Freiheit. Freiheit lebt davon, dass ein anderer, ein Umfeld dir ermöglicht, von deiner Freiheit Gebrauch zu machen. Genau das erleben die Frauen nicht. Wenn ich aber nicht selber über mich und meinen Körper bestimmen kann, bleibt ein Gefühl von Ohnmacht, das Trauma.
Frauen in der Prostitution sind deshalb in besonderer Weise vulnerabel, verletzlich. Häufig haben sie schon in ihrer Biografie massive Missbrauchs- und Gewalterfahrungen gemacht. Sie haben auch dort erlebt, dass niemand sie schützt. Die Erfahrung, ausgeliefert zu sein, gehört zu ihrem Leben. Diese biografischen Prägungen erschwert es ihnen, für sich einzutreten. Umso mehr sind sie auf Hilfe und Unterstützung von außen angewiesen.
Beratungsstellen wie z.B. Amalie in Mannheim oder Anna in Heidelberg helfen den Frauen, auszusteigen und ihr Leben wieder selbst in die Hand zu nehmen. Das ist ein langer weg. Er braucht etwa fünf Jahre. Christliche Nächstenliebe braucht hier einen langen Atem.
Um aber nicht nur an den Symptomen rumzudoktern, brauchen wir meines Erachtens auch eine neue gesetzliche Regelung. Prostitution geschieht zur Zeit nach den Regeln des Marktes. Um die Nachfrage einzudämmen brauchen wir ein Verbot des Sexkaufs, ohne die Frauen zu bestrafen.
Wir brauchen die Einsicht, dass Prostitution kein Kavaliersdelikt ist, sondern bezahlte Vergewaltigung, die einem anderen Menschen lebenslanges Leid zufügen kann.
Und wir brauchen ein anderes Verständnis von Sexualität. Sexualität ist in meinem christlichen Verständnis ein Geschenk Gottes, das Menschen sich gegenseitig schenken. Ein Geschenk kostet nichts. Ein Geschenk kann man nicht kaufen. Sexualität als Geschenk erfordert deshalb die freiwillige Zustimmung aller Beteiligten, Einverständlichkeit auf gleicher Augenhöhe.
So wird sie zu einem unbezahlbaren Schatz gemäß den Worten des Paulus: Lasst alles bei Euch in Liebe geschehen. (1 Korinther 16,4). Amen.
