Kanzelrede am 3. Oktober 2025 zum Tag der Deutschen Einheit
Hinter dem Horizont geht’s weiter?

Über neue Mauern und alte Gewissheiten

in der Evangelischen Stadtkirche Durlach

von Michael Roth

Liebe Schwestern und Brüder,

„Hinterm Horizont geht’s weiter“ – ein Lied von Udo Lindenberg. Wir kennen es alle. Es klingt nach Freiheit, Aufbruch, Zuversicht. Und doch bleibt die Frage: Geht es wirklich weiter – oder stoßen wir immer wieder an Mauern, die uns den Weg versperren?

Ich bin im hessischen Zonenrandgebiet groß geworden. Für viele im Westen, auch für Sie hier in Karlsruhe und Durlach, war die Mauer weit weg. Für uns war sie Alltag. Wenn ich als Kind aus unserem Haus auf die Wiesen und in den Wald blickte, wusste ich: Mitten im Wald ist Schluss. Dahinter beginnt eine Welt, die ich niemals betreten durfte. Wer es versuchte, riskierte sein Leben.

Schon als Kind habe ich verstanden: Grenzen engen nicht nur Räume ein. Sie engen auch die Seele ein. Sie nehmen uns die Freiheit, nach der wir uns sehnen: das Abenteuer hinter dem Horizont.

Dann kam dieser November 1989. Ich war 19 Jahre alt, wenige Monate vor meinem Abitur. Und plötzlich fiel die Mauer. Nicht nur in Berlin. Auch bei uns.

Ich sehe die Bilder noch vor mir: Menschen, die sich in die Arme fielen, Tränen in den Augen, Lachen in den Gesichtern. Auch bei uns im Westen war es, als würde eine Tür in eine völlig neue Welt aufgestoßen.

Das war mein politisches Erweckungserlebnis. Ich spürte: Das ist nicht nur ein deutscher, das ist ein europäischer, ja ein weltgeschichtlicher Moment.

Und wir dürfen nicht vergessen: Der Mauerfall kam nicht aus dem Nichts. Er war das Ergebnis von Mut, von Beharrlichkeit, von Hunderttausenden, die in Warschau, Prag, Bratislava, Budapest und Leipzig friedlich demonstrierten. Der Mut dieser Menschen ließ Mauern einstürzen – nicht durch Gewalt, sondern durch Hoffnung. Die Wiedervereinigung ist kein nationales, sondern ein europäisches Ereignis. In Europa fielen Mauern. Brach die kommunistische Diktatur zusammen.

1989 hat mir gezeigt: Freiheit ist möglich. Aber sie ist niemals selbstverständlich. Freiheit ist ein Geschenk – und zugleich ein Auftrag. Sie verpflichtet uns, sie zu bewahren, zu verteidigen, weiterzugeben. Heute begegnen uns Mauern nicht mehr aus Beton und Stacheldraht, sondern in anderer Gestalt: Abschottung, Misstrauen, Hass, Gleichgültigkeit. Wir erleben, wie Menschen wieder Mauern um sich herum errichten – Mauern in den Köpfen und Herzen.

Heute, 35 Jahre nach dem Mauerfall, sehen wir: Mauern verschwinden nicht für immer. Sie kommen zurück – subtil, unsichtbar, aber gefährlich. Eine Mauer entsteht nicht über Nacht. Sie wird Stück für Stück gebaut. Stein auf Stein. Zentimeter um Zentimeter.

Neue Mauern wachsen zwischen Arm und Reich, Stadt und Land, Jung und Alt. Neue Mauern wachsen in digitalen Blasen, in denen jeder nur noch seine eigene vermeintliche Wahrheit hört. Neue Mauern wachsen, wenn Angst stärker wird als Zuversicht. Und diese Angst wird geschürt – von Populisten, von Nationalisten, von Menschen, die Macht aus der Spaltung gewinnen wollen.

Viele sehnen sich nach der Einfachheit vergangener Tage. „Früher war alles besser“, hören wir. Früher gab es klare Regeln, klare Wahrheiten, klare Grenzen. Ich verstehe diese Sehnsucht. Die Welt ist komplexer, schneller, unübersichtlicher, stressiger geworden. Für uns alle. Kriege, Krisen und Konflikte – wohin wir nur schauen. Aber das „Früher“ war nie so idyllisch, wie es manche behaupten. Früher hatten Frauen weniger Rechte. Früher wurden Menschen wegen ihrer Hautfarbe, ihrer Religion oder ihrer Liebe diskriminiert. Früher mussten Menschen früher sterben, weil es gegen viele Krankheiten noch keine Therapie gab. Früher war das Wasser unserer Flüsse schmutziger, die Luft verpesteter. Früher starben weltweit mehr Frauen im Kindbett, Menschen an Hunger und Durst. Früher mussten Menschen körperlich härter arbeiten. Früher wurden Kinder von ihren Eltern geschlagen – und es war ganz normal. Früher gab es kein Internet, dass uns alle teilhaben lässt an Wissen, Informationen, neuen Erkenntnissen. Früher gab es keine Selfies.

Und doch machen Populistinnen und Populisten mit dem wachsenden Verdruss Politik. Sie versprechen die große Vereinfachung. Sie erzählen von Kettensägen, von radikalen Schnitten, von der großen Zerstörung, die angeblich alles besser machen soll. Doch was zerstört wird, wächst so leicht nicht wieder. Was einmal niedergerissen ist – Vertrauen, Anstand, Zusammenhalt – lässt sich nicht einfach reparieren. Die Parole der Populisten lautet: spalten statt verbinden, ausgrenzen statt einschließen, zerstören statt gestalten. Sie spielen mit der Wut, aber sie haben keine Lösungen.

Das ist die eigentliche Gefahr: dass wir uns an diese furchtbare Sprache der Verrohung und des Hasses gewöhnen. Dass wir sie für normal halten. Dass wir ihre Gewalt überhören, weil sie so laut daherkommt.

Demokratie stirbt nicht über Nacht. Sie stirbt leise – wenn die Respektvollen schweigen und die Lauten das Feld übernehmen.

Sie stirbt, wenn wir denen hinterherlaufen, die Menschen in „uns“ und „die anderen“ einteilen, die Hass säen und Vielfalt verächtlich machen.

Sie stirbt, wenn die Mitte müde wird.

Liebe Schwestern und Brüder,

der Verdruss mit der liberalen Demokratie ist längst nicht mehr nur am Rand zu finden. Er ist längst in der Mitte angekommen.

Menschen, die mitten im Leben stehen, die Bildung haben, Arbeit, Wohlstand – auch sie stellen die Demokratie in Frage. Nicht aus Not, sondern aus Ungeduld, aus Enttäuschung, aus Misstrauen.

Viele sagen: „Es bringt doch alles nichts. Die da oben machen sowieso, was sie wollen.“ Manche wenden sich von Parteien ab, andere von Wahlen, wieder andere von der Demokratie insgesamt.

Das Gift sickert langsam, fast unmerklich, in unsere Gespräche, in unsere Wohnzimmer, in unsere Vereine. Wenn die Mitte ihre Geduld verliert, wenn sie nicht mehr an die Kraft der Demokratie glaubt – dann wird es gefährlich. Denn die Demokratie lebt gerade davon, dass die Mitte trägt, dass sie Vertrauen hat, dass sie zusammenhält – bei allem notwendigen Streit in der Sache.

Eine bunte, vielfältige Gesellschaft ist etwas Wunderbares. Aber sie ist auch anstrengend. Lassen Sie uns das ehrlich aussprechen. Vielfalt ist eine Bewährungsprobe, sie verlangt Geduld, Toleranz, Bereitschaft zum Zuhören und klare Grenzen.

Und doch ist sie ein Schatz, den wir nicht verlieren dürfen. Denn eine vielfältige Gesellschaft bringt mehr Ideen, mehr Kreativität, mehr Möglichkeiten hervor als eine, die sich abschottet, die sich selbst genügt.

Aber: Eine solche Gesellschaft braucht Gemeinsamkeiten. Sie darf sich nicht mit blutarmen Bekenntnissen zum Grundgesetz begnügen. Sie muss klar sagen, wofür sie steht.

Sie steht auf einer Geschichte, die auch tragisch und dunkel ist – einer Geschichte von Krieg, Zerstörung und Rassenwahn. Aus dieser Vergangenheit haben wir gelernt, zu lernen versucht. Darum gilt heute: Frauen und Männer sind gleich. Das Patriarchat hat keine Zukunft. Sexuelle Minderheiten werden respektiert. Religiöse, kulturelle und ethnische Vielfalt ist kein Problem, sondern ein Reichtum. Antisemitismus ist ein No Go. Dies müssen alle achten und leben. Ob sie nun hier geboren oder hier eingewandert sind. Ob sie alte weiße Männer oder junge, weibliche People of Colour sind.

Diese Gesellschaft fordert auch etwas von uns. Von uns allen. Nicht nur von den anderen. Sie verlangt, dass wir uns einsetzen, dass wir uns einmischen, dass wir Verantwortung übernehmen. Freiheit ohne Verantwortung zerfällt. Vielfalt ohne gemeinsame Regeln führt ins Chaos. Demokratie ohne Beteiligung verliert ihre Kraft.

Darum: Wenn wir die bunte, vielfältige Gesellschaft wirklich wollen – dann müssen wir sie auch leben. Jeden Tag. Im Alltag. Mit Haltung.

Freiheit ist nicht nur eine deutsche Frage. Sie ist eine europäische, ja eine globale Aufgabe.

In der Ukraine kämpfen Menschen für ihre Freiheit und Unabhängigkeit – und auch für unsere Sicherheit. Dort wird entschieden, ob das Recht des Stärkeren und nicht die Stärke des Rechts wieder das Recht der Welt wird.

Russland, China und ihren Vasallen wollen unser Geld, unsere Technologie, unsere Gesprächsbereitschaft, unsere Rücksichtnahme, unser Verständnis. Aber sie hassen unsere Werte, individuelle Freiheiten, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit.

In Israel wird täglich um das Existenzrecht eines ganzen Staates gerungen. Antisemitismus, den viele längst überwunden glaubten, ist zurück – und bedroht unser Zusammenleben auch in Deutschland. Und eben nicht nur der Antisemitismus von Schwurblern, alten und neuen Nazis. Der Antisemitismus in migrantisch-arabischentürkischen Kreisen, wo Kindern mit dem Hass auf Israel und jüdisches Leben erzogen werden. Der Antisemitismus in linken Kreisen, in der Kultur, wo die einzige liberale Demokratie im Nahen Osten verblasst hinter dem Schlagwort eines „kolonialistischen Apartheidsstaates“, dem man sein Existenzrecht absprechen müsse.

Und an den Grenzen Europas stehen Menschen, die vor Krieg, Hunger und Unterdrückung fliehen. Sie erinnern uns daran: Gastfreundschaft, Solidarität und Mitmenschlichkeit sind keine leeren Worte, sondern Prüfsteine unserer Zivilisation. Wir wissen aber eben auch, dass wir nicht alle Menschen aufnehmen können – allein in Europa, gegen alle Partner und Freundinnen. Dass wir wissen müssen wer kommt, warum und wie. Unser Sozialstaat wird nur dann überstehen, wenn wir unser Land für talentierte, qualifizierte und engagierte Menschen öffnen. Sie werden gebraucht – ob in Gesundheit und Pflege, Dienstleistungen und Handwerk.

Liebe Schwestern und Brüder,

1989 haben wir erlebt, dass Mauern fallen können. Dieses Wunder verpflichtet uns bis heute. Die Frage lautet: Lassen wir uns von denen einschüchtern, die Mauern hochziehen wollen – oder finden wir den Mut, neue Horizonte zu öffnen?

Der Horizont ist nicht das Ende. Der Horizont ist der Anfang.

Hinter dem Horizont geht’s weiter – wenn wir uns nicht von Angst, Hass und Nostalgie treiben lassen, sondern von Hoffnung, Zuversicht und Mut.

Die Zukunft bleibt offen. Sie ist unbequem, manchmal beängstigend. Aber sie ist auch voller Chancen. Lassen wir uns nicht täuschen von denen, die uns einfache Antworten versprechen. Vertrauen wir auf die Kraft der Freiheit, auf die Würde des Menschen, auf den Zusammenhalt unserer Demokratie. Dann werden wir nicht in den Mauern von gestern gefangen bleiben, sondern gemeinsam die Horizonte von morgen entdecken.

Amen.

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